Wildes Land: Die Rückkehr der Natur auf unser Landgut.
Ein Buch über die Regeneration einer geradezu atemberaubenden Biodiversität auf einer ehemals intensivst konventionell genutzten englischen Farm in kaum einem Jahrzehnt. Buchbesprechung von Herbert Nickel
Die nachfolgende Besprechung basiert auf der englischen Originalfassung.
Um es gleich vorneweg zu schreiben: Dieses ist eines der inspirierendsten Bücher, die je im Fachgebiet Naturschutz geschrieben wurden. Es ist fachlich auf absolut hohem Niveau, aber zugleich leicht verständlich, leicht lesbar und auch mit einem geradezu literarischem Spannungsbogen geschrieben. Es taucht mit einer spielerischen Leichtigkeit in die verschiedensten Bereiche der terrestrischen Ökologie ein und vermittelt dabei funktionelle Zusammenhänge, die man in unseren intensiv genutzten Landschaften nicht mehr sieht, weil die beteiligten Komponenten fehlen. Die Autorin hat dafür Literatur quer durch die verschiedensten Gebiete gelesen, von Charles Darwins Regenwurmstudien, über Arthur G. Tansley, Hermann Remmert, Edward O. Wilson und natürlich Frans Vera, bis hin zu einer breiten Palette von speziellen Arbeiten zu Paläökologie, Kulturlandschaftsgeschichte, Ökologie von Dungkäfern und Aas, zu Bodenbiologie und Ökotrophologie.
Das wirklich besondere Verdienst des Buches ist aber, dass es erzählt, wie das scheinbar Unmögliche wahr wird, nämlich die Regeneration einer geradezu atemberaubenden Biodiversität auf einer ehemals intensivst konventionell genutzten englischen Farm in kaum einem Jahrzehnt. Noch unglaublicher erscheint, dass der Betrieb trotz größter und durchweg vergeblicher Intensivierungsanstrengungen die dafür nötige Umstellung aus purer wirtschaftlicher Not vorgenommen hat und erst seitdem erstmals seit Jahrzehnten wieder schwarze Zahlen schreibt und tatsächlich auch Geld verdient.
Aber der Reihe nach: 1987 erben Charlie Burrell und seine Frau Isabella Tree einen landwirtschaftlichen Betrieb mit 1.400 ha im südenglischen Sussex. Mit verschiedenen konventionellen Anbaumethoden und Vermarktungsstrategien, unter größten Anstrengungen und mit aller staatlicher Unterstützung versuchen sie, den Betrieb mit seinen tonigen Böden, der schon Jahre vorher in die Verlustzone abgerutscht war, in die schwarzen Zahlen zu bringen, doch es will nicht gelingen. Im Jahr 2000 verkaufen sie den Maschinenpark und die Milchviehherde und entlassen die Angestellten. Ab 2001 lassen sie nach und nach praktisch alle maschinellen und stofflichen Eingriffe entfallen und setzen nach und nach Herden von englischen Longhorn-Rindern, Exmoor-Ponies, Damwild und Tamworth-Schweinen aus. Schon vorhanden sind Rot- und Rehwild. Es gelingen eine Integration in die 2003 reformierte Förderung der GAP und die Akquise von Geldern für Zaunbau und andere Maßnahmen.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten überschlagen sich die Meldungen: Der Rückzug von Mensch und Maschinen aus der Landschaft setzt ungeahnte Kräfte frei. Heute kann Knepp als eines der erfolgreichsten Renaturierungsprojekte in ganz Europa und sogar weltweit bezeichnet werden. Geld wird – nach einer zunächst stotternden Anlaufphase – mit erstklassigem Fleisch und einem Campingplatz für Naturtouristen verdient. Beides findet im Speckgürtel von London reißenden Absatz. Und natürlich wurden und werden öffentliche Gelder für den Bau von Zäunen und Infrastruktur und jährlich für die Fläche zugeschossen. Detailliertere Zahlen zur Wirtschaftlichkeit sind nachzuhören in einem öffentlich geposteten Vortrag von Charlie Burrell: www.youtube.com/watch?v=usCDSulDmdI (allerdings noch auf Vor-Brexit-Stand).
Das Buch erzählt die ganze Geschichte und ist voller spannender und lehrreicher Anekdoten, die alle unsere gewohnten Denkmuster im Naturschutz in Frage stellen: die anfängliche Massenausbreitung von Ackerkratzdistel und Jakobskreuzkraut, die fast das gesamte Projekt zu Fall gebracht hätte, die abertausend Distelfalter, die die erstere dann besiedelt haben, die Schilderungen des (englischen) Jahrhunderthochwassers im Jahr 2000 und die vielfältigen Meliorationsmaßnahmen im Lauf der beiden vergangenen Jahrhunderte, die dieses entscheidend verschärft haben, die Einwanderungen von Wanderfalke, Steinkauz, Schillerfalter, der im Vereinigten Königreich sehr seltenen Nachtigall, die wahrscheinlich in ganz Westeuropa einzigartige, exponentielle Zunahme der Turteltaube, das geradezu unglaubliche Untertauchen der Schweine im Teich auf der Suche nach Muscheln, die vielen neu eingewanderten Arten von Bienen, Dungkäfern, Fledermäusen, Orchideen, und nicht zuletzt die vielen teils absurd erscheinenden Widerstände durch Nachbarn, Behörden und sogar – in beachtlichem Ausmaß – Naturschützer.
Fast schwärmerisch behandelt die Autorin als vorletztes Kapitel noch die Regeneration des Bodens und erzählt von der Rückkehr der lange Zeit verschwundenen Regenwürmer, von den Mykorrhizapilzen und dem Potenzial der Kohlenstoffspeicherung belebter Böden vor Ort und weltweit. Am Ende schließt sich für sie und Charlie der Kreis im schönen Gleichklang der Begriffe „human“, „Humus“ und „Bescheidenheit“ („humility“), wobei letzterer vielleicht treffender mit „Ehrfurcht vor der Schöpfung“ übersetzt wäre. Dabei hätte vermutlich jeder Ökonom darauf gewettet, dass sie das vielleicht am Anfang des Projektes gesagt hätte, aber nicht mehr 20 Jahre später.
Natürlich ist die Situation auf Knepp insofern für den Naturschutz günstig, als Charlie Burrell und Isabella Tree Eigentümer der gesamten Fläche sind und quasi wie Pippi Langstrumpf tun können, was sie wollen. Auch deswegen macht es geradezu Spaß und ist so wohltuend, dieses Buch zu lesen. Denn viele – oft teure – Naturschutzprojekte können höchstens die Verlangsamung des Rückgangs einiger Zielarten vermelden, oft sogar nur einer einzigen, oder einen Strohfeuererfolg, der nach Projektende wieder verpufft. Aber ein Erfolg auf so vielen Ebenen ist fast einmalig.
Was hindert also Flächeneigentümer in Deutschland und anderswo daran, dieses Modell zu kopieren und selber Pippi Langstrumpf im Naturschutz zu sein? Großagrarier, Unternehmer, Stiftungen, Naturschutzverbände, die öffentliche Hand und andere Flächeneigentümer….? Die verblüffend einfache Antwort lautet: Nichts. Außer die Angst, zu scheitern, die auch Charlie und Isabella erst überwinden mussten, und sicherlich die deutsche Bürokratie und die veterinärmedizinischen und fördertechnischen Einschränkungen, die man aber mit dem derzeitigen politischen Rückenwind unter Einbeziehung der Ministerien überwinden könnte. Und dank Charlie und Isabella und ihres bewundernswerten Mutes wissen wir jetzt, dass es funktioniert, wenn man es richtig angeht.
Natürlich könnte man das Modell Knepp jetzt nicht auf ganz England oder ganz Deutschland übertragen, denn die Gesellschaft braucht Getreide und andere Nahrungsmittel. Und auch das produzierte High-End-Fleisch könnte und wollte sich nicht jede/r leisten. Aber gäbe es in Deutschland 100 Projekte dieses Kalibers, würden sie gerade einmal ein Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche einnehmen, aber dennoch ein mächtiges Zeichen für die Aussöhnung der Landwirtschaft mit der Natur setzen. Auf den ertragsschwächsten Böden, z.B. in Auen und wiedervernässten Niedermooren, könnten sie maßgeblich zum Hochwasser- und Klimaschutz beitragen, ohne die Gesamtproduktion nennenswert zu reduzieren. Und vielleicht gingen dann auch noch drei oder vier Prozent mehr, also so viel, wie wir jetzt aus der Nutzung nehmen und verbrachen lassen wollen. So what? Read this book and go ahead, Germany!
Wildes Land. Buchbesprechung von Herbert Nickel als PDF
Isabella Tree (2018): Wilding: The return of nature to a British farm. – Picador, Croydon. 362 pp., ISBN-10 1509805109
Seit März in deutscher Fassung (Übersetzung von Sofia Blind): Wildes Land: Die Rückkehr der Natur auf unser Landgut. – Du-Mont, Köln. 416 pp., ISBN-10 3832181822